Zum Thema

Obwohl die Körper und das Körperliche heute fast konkurrenzlos als das einzig Reale und im Leben Wichtigste gelten und den Zielort für reduktionistische Erklärungen aller Art bilden, gibt es erstaunlich wenig explizit philosophische Betrachtungen über das Wesen dieses vermeintlich so verlässlichen und manifesten Fundaments unserer Welt. Vielmehr glaubt man alles, was dazu zu sagen ist, der Physik und den anderen Naturwissenschaften überlassen zu dürfen. Symptom dieses Mangels in der philosophischen Wahrnehmung ist das Fehlen eines eigenen, dem Stichwort ‚Körper’ oder ‚body’ gewidmeten Eintrags im Historischen Wörterbuch der Philosophie oder in der laufend aktualisierten Stanford Encyclopedia of Philosophy. Dieses Versäumnis der Philosophie führt unter anderem dazu, dass philosophische Reflexion sich zunehmend nur auf das Sprachliche, Mentale und Subjektive verlegt und, was nach allgemeiner Auffassung real und in Wahrheit ist, bei den Naturwissenschaften aufgehoben sieht. In der Antike dagegen fand das Thema in der Philosophie zuerst die größte Aufmerksamkeit, von der dann natürlich auch alle einschlägigen Wissenschaften von der Medizin und Biologie bis hin zur Mathematik und Astronomie angeregt wurden und profitierten.

Auf der anderen Seite häufen sich zeitgenössische Debatten um den menschlichen Körper und seine Belange mit Stichworten wie ‚Körperwahrnehmung‘ ‚Körperbewusstsein‘ oder auch ‚Entfremdung vom eigenen Körper‘. Dabei wird leider oft übersehen, dass gerade die Antike den Körper keineswegs nur als Kontrastfolie gegenüber Konzepten wie Geist oder Seele ansah, sondern von früh an und sehr prinzipiell über das Wesen des Körpers als solchen und die charakteristischen Vorzüge und Schattenseiten des Körperlichen nachgedacht hat. Diese Gedanken gilt es, wieder ins Gedächtnis der aktuellen Diskussion zurückzurufen.

Ursprünglich war der Begriff „σῶμα“ auf den toten menschlichen oder tierischen Körper beschränkt (Vgl. Il. 3.23; Od. 11,53). Allmählich wurde er aber auch auf den lebendigen Körper angewendet und die Verwendung immer breiter und grundsätzlicher, was schließlich von der Philosophie aufgenommen wurde. Als Beispiele für eine solche Entwicklungsrichtung lassen sich bei den Vorsokratikern etwa Anaximander, dessen apeiron wahrscheinlich als eine Art Urkörper zu verstehen ist, Empedokles oder die Atomistik anführen. Aristoteles nennt den Körper das ontologisch in sich „Vollendete“, das deshalb geradezu paradigmatisch ‚Substanz’ sei. Aber auch Platon hat den Körper nicht nur als ein baldmöglichst zu fliehendes ‚Gefängnis der Seele‘ beschrieben, sondern sieht im Körper eine unentbehrliche Fixierung und Manifestation dessen, was ist. Ohne Körper schiene Bewegung unmöglich zu sein, ohne Bewegung gäbe es keine Dynamik, keine Entwicklung, kein Leben. Die Stoiker haben in dieser Linie dem Körper als von sich her Selbständigem und Seiendem das unselbständige ‚lekton’ – d.i. das was gesagt oder gedacht wird und deshalb nicht für sich steht – entgegengesetzt. Epikur und später Lukrez, natürlich auch Plotin haben im Fortgang der antiken Philosophiegeschichte immer wieder neue und wichtige Ideen zum Thema Körper eingebracht; die ganze Medizin, deren Tradition in die Antike reicht, dreht sich um ihn und seine Erhaltung; auf ihre ganz eigene Weise gilt das auch für die Mathematik; schließlich ist natürlich auch die Dichtung zu nennen, die dem, was Körper ist, große Aufmerksamkeit schenkt.

Der Körper präsentiert sich im antiken Denken also mannigfaltig wie Proteus: Als Anker der Wirklichkeit, aber auch Gefängnis des Daseins. Das, was für sich getrennt steht, aber gerade deshalb sich zerstreut in unerreichbare Fernen von Raum und Zeit. Immerhin sichtbar und spürbar, doch zugleich scheinbar und vergänglich; das Teilbarste und Unteilbarste in einem. Erfreulich symmetrisch und berechenbar, dann wieder chaotisch und zufallsgeplagt. Der Körper tritt auf als konkurrenzlose Macht von Wirken und Leiden, taugt so als mögliche Stätte der Schönheit und des Lebens. Was einer ‚selbst’ ist, wird σῶμα genannt, aber auch der tote Überrest, der, wie Heraklit sagt, „eher wegzuwerfen ist als Mist“. Der Körper ist das Vortreffliche und das Verwerfliche; das Kranke und das Gesunde, das Heile und das Korrupte; Objekt der Begierde und Gefäß der Lust. Den einen ein bloßer Schein, den anderen alles und das einzig Wahre. Der Kongress erkundet den Proteus nach all seinen Auftritten und Masken im antiken Denken – als mathematisches und physisches, astronomisches und medizinisches, ontologisches und poetisches, haltgebendes und hinfälliges Gebilde der Realität.